Urs FüsslerPotsdamer Vortrag: das Carambole-PrinzipMagazin A → ( « .., 22. Dia, .. » )

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Wesentlich an diesen Beispielen scheint mir, und das ist ein erster Punkt des Carambole-Prinzips, dass mittels baulicher Massnahmen Situationen entstehen, die anstiften zum Weiterdenken, zum Weiterplanen, zum Fortschreiten.
Ich werde kurz und vereinfachend die Spielart des Carambole-Billards im Unterschied zur Spielart des Pool-Billards erklären. Beim Pool-Billard gibt es fünfzehn Kugeln und sechs Löcher, vier in den Ecken des Billardtisches und je eines mittig in den Längsseiten. Wer möglichst viele der Kugeln fehlerfrei in den Löchern vesenkt, direkt oder indirekt, gewinnt. Es werden Punkte gezählt, bis die letzte Kugel vom Tisch ist. Beim Carambole-Billard ist das Ziel ein anderes. Der Tisch hat keine Löcher, gespielt wird nur mit drei Kugeln: einer roten, einer weissen Kugel und einer weissen Kugel mit schwarzem Punkt. Ziel des Spiels ist es, möglichst lange "am Ball zu bleiben", das heisst mit seiner Kugel die beiden andern Kugeln je einmal zu treffen. Es geht deshalb nicht nur darum, die richtigen Kugeln zu treffen, sondern eine gute Lage der Kugeln zueinander nach dem Stoss vorzubereiten. Will heissen, sich bereits eine Ausgangslage für den nächsten Schritt zu schaffen.
Betrachten wir die Stadt als Billardspiel, nicht mit drei oder fünfzehn Kugeln, sondern vielleicht mit fünfzigtausend, der Zahl der ungelösten Baugrundstücke, der grässlichen Häuser, die man abreissen und durch andere ersetzen möchte, abhängig von der Grösse der Stadt und der Zahl ihrer Problemfälle. Dann könnte die Arbeit des Architekten gesehen werden als ein urbanes Aufräumen, ein Versenken der Kugeln, eine nach der andern, bis irgendwann alle vom Tisch sind, das Spiel aus und die Stadt eine Stadt ist, mit der sich eigentlich nichts mehr anfangen lässt, strahlend in ihrer Schönheit. Pool-Billard-Stadt, auf ihre Pinselsanierung wartend.
Berlin lebt davon, dass vielerorts Situationen offen und ungelöst sind, es ist eine seiner positivsten wie wesentlichsten Eigenschaften. Folglich könnte, in Analogie zum Carambole-Billard, das Spiel ein anderes sein, ein nachhaltigeres. Der stadtplanende Architekt begreift das Bauen, sein Bauen, nicht als die Elimination von Problemen, sondern als das Schaffen von neuen Situationen, die die Stadt und die Entwicklung der Stadt beeinflussen, als eine Basis, auf der andere, wie er selbst, _aufbauen_ können. Dass also die faszinierenden ungelösten Orte, aus denen die Stadt besteht, ihre urbanen Polyvalenzen, nicht verloren gehen - weil da, wo die Architekten gebaut haben, das brache Grundstück nicht mehr existiert oder eine merkwürdige Zusammenstellung aufgelöst wurde zugunsten einer Glättung, Homogenisierung, Eindeutigkeit -, sondern lediglich eine Transformation erfahren. So liesse sich mit zwei Sätzen Idee und Ziel hinter einem Städtebau des Carambole-Prinzips skizzieren.
Dieses Gebäude, so langweilig es scheint, es ist grau und wirklich kein grossartiges Haus, steht doch hier, weil es genau das macht: es stiftet dazu an, an anderer Stelle ähnliche Mittel einzusetzen, transformatorische, deformatorische. Dabei handelt es sich um ein Gebäudekonglomerat, dessen Anstiftungspotential auch selbstbezüglich ist, das heisst es lässt sich erneut umbauen, ohne jeden Nimbus von Unberührbarkeit.

Das nächste Dia.

Foto: © Urs Füssler